Streuobstwiese

Das verlorene Paradies

Sonntag, herrliches Wetter, Zeit zwischen Frühling und Frühsommer, ich überlege was ich sinnvolles mit den Kindern machen soll. Meine kleine Tochter und ich fahren mit dem Fahrrad in den Wingert, wie wir die Streuobstanlage hinterm Haus nennen. Vorbei an eingehegten Schrebergärten führt der Weg, dort blühen die letzten Primeln, Tulpen, Narzissen und Osterglocken, ein Vorgeschmack auf das Paradies. Die Schlehen sind schon verblüht, sonst würden sie uns einen duftenden weißen Baldachin bieten. Der Weg ist die ersten dreihundert Meter recht steil, ich strenge mich an. Wir singen „Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt dem will er seine Wunder weisen in Berg und Tal und Strom und Feld. Die Trägen, die zu Hause liegen, erquicket nicht das Morgenrot; sie wissen nur von Kinderwiegen, von Sorgen, Last und Not ums Brot. Die Bächlein von den Bergen springen, Die Lerchen schwirren hoch vor Lust, Was sollt ich nicht mit ihnen singen Aus voller Kehl und frischer Brust?“ Ja, das Lied entspricht unserer Stimmung.

Inzwischen haben wir jenen Teil erreicht, der nicht mehr eingehegt werden darf. Hier duften die blühenden Apfelbäume, ein berauschender Duft, köstlich. Weil es Vormittag ist, singen einige Vögel, ein herrliches Konzert, selbst der Pirol mit seinem melodischen Ruf „didlioh“ ist zu hören. Der amselgroße Vogel mit seinem kanariengelben Körper und den schwarzen Schwingen gehört zu den attraktivsten Singvögeln meiner Heimat. Wir machen Pause und beobachten ihn, wie er von einem Baum zum anderen fliegt. Er fühlt sich von uns erwischt und sein melodischer Ruf ändert sich in ein aggressives „wiächt und chräj“. Inzwischen haben wir den kleinen Weg verlassen, der mehr ein Trampelpfad ist. Nicht nur Apfelbäume begleiten uns, sondern vor allem an dichtem Gebüsch aus Brombeeren führt die Fahrt entlang. Es ist hoch und kratzt an Juttas nackten Beinen. Dann kommen wir an den Hohlweg, der früher die Grenze von Oberhessen und Preußen war. Hier finden wir einen freien Platz unter üppig blühenden Apfelbäumen und machen Rast. Jutta kuschelt sich an mich und wir genießen die wunderschöne Aussicht. Ich bitte sie, leise zu sein, denn wir wollen Tiere beobachten. Und dann sehen wir einen Fuchs entlang schnüren. Diese elegante Art zu laufen kann kein Hund nachmachen. Schnell ist er in den Brombeersträuchern verschwunden. Kurz darauf hören wir ein schrilles Aufschreien einer Elster. Leise mache ich meine Tochter auf andere Vögel aufmerksam, zum Beispiel ein Rotkehlchen. Sein perlender Gesang am Ende ihres Liedes ist markant und fröhlich. Es sitzt auf einem der höheren Birnenbäume, von wo es einen schönen Überblick über den Hohlweg mit seinen Dickichten hat. Wir sitzen eine ganze Weil ganz leise auf unserem Anstand und hören einer oder mehreren Amseln zu, es ist paradiesisch, als Jutta auf einen dunklen Schatten hinweist. Da erkenne ich ihn auch, er ist ein Dachs, der blitzschnell im Gebüsche verschwunden ist. Die Atmosphäre ist so friedlich, dass wir beide es hier als Paradies empfinden. Plötzlich hoppeln zwei Hasen auf die Lichtung. Sie stellen ihre Löffel auf, um Gefahren zu hören, uns nehmen sie nicht wahr. Als auch sie im Gebüsch verschwinden leuchten noch einen Moment ihre Lampen auf. Nach einer Stunde satteln wir wieder das Fahrrad und fahren vorsichtig den Hohlweg hinunter, begleitet vom fröhlichen Vogelgesang.

Warum nennen wir den wilden Hohlweg ‚das verlorene Paradies? Wenige Jahre später wurde der Hohlweg planiert und mit Einfamilienhäusern bebaut.

Kategorien Paradies

Hallo, ich bin Hans Tuengerthal, Oberstudienrat für Geographie und Weltreisender. Ich habe die Welt mit Rucksack und Fahrrad bereist. Als Gymnasiallehrer für Geographie, Geschichte und Politik hatte ich dafür leider nur beschränkte Zeit, aber um so mehr Möglichkeiten, meine Schüler für die Natur und unsere schöne Welt zu begeistern.